Was ist der Kern guter Führung?
Sowohl Religionsstifter wie Laotse, Buddha oder Jesus als auch andere Große der Menschheitsgeschichte wie Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi und Martin Luther King hätten darauf sehr wahrscheinlich die gleiche Antwort gegeben: Liebe!
Nach Erich Fromm ist die Liebe:
»nicht in erster Linie eine Bindung an eine bestimmte Person. Sie ist eine Haltung, eine Charakter-Orientierung, welche die Bezogenheit eines Menschen zur Welt als Ganzem und nicht zu einem einzigen ›Objekt‹ der Liebe bestimmt. Wenn jemand nur eine einzige andere Person liebt und ihm alle übrigen Menschen gleichgültig sind, dann handelt es sich bei seiner ›Liebe‹ nicht um Liebe, sondern um eine symbiotische Beziehung oder um einen erweiterten Egoismus.«1
Wer in diesem Sinne lieben kann, wird alle Menschen lieben. Die Liebe als grundsätzliche Haltung kann auch innerhalb von Unternehmen bestehen, davon bin ich überzeugt.
[highlight]Liebe ist eine Haltung, eine Charakterorientierung.[/highlight]
Die Liebe als Grundhaltung besteht aus vier Elementen. Bitte fragen Sie sich jeweils, wie Sie diese vier Elemente bei Ihrer Familie oder Ihren Nächsten leben und wie Sie es mit Ihren Mitarbeitern halten.
1. Den anderen sehen
Der erste Schritt besteht darin, unser jeweiliges Gegenüber wirklich wahrzunehmen. Gemeint ist damit aber nicht die Persona. Nach C. G. Jung ist die Persona der Teil unserer Persönlichkeit, den wir nach außen zeigen und darstellen. Dazu gehören unsere sozialen Rollen wie zum Beispiel der Jobtitel auf der Visitenkarte, gestützt durch Besitztümer und Statussymbole wie den eleganten Firmenwagen. Hinter der Maske steht der Mensch mit all seiner Verletzlichkeit. C. G. Jung nennt diesen Teil das individuelle Ich, das von der Persona geschützt wird. Werden die Persona und die Anpassung an äußere Rollenmuster zu stark, verkümmert jedoch das individuelle Ich.
Eine Führungskraft, die Menschen mit der Grundhaltung der Liebe begegnet, weiß, dass die Maske niemals den ganzen Menschen zeigt, und erahnt bei regelmäßigem Kontakt, was sich dahinter verbirgt. Dafür muss man sich aber auf den anderen einlassen und ihn wirklich sehen wollen. Warum verhält ein Mitarbeiter sich in einer Weise, die mich ärgert? Wenn wir den anderen wirklich wahrnehmen, entdecken wir hinter dem vordergründigen Verhalten den ängstlichen, verletzten, wütenden oder traurigen Teil des Menschen. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass man als Führungskraft jedes Verhalten akzeptieren und durchgehen lassen soll. Oft ist es unsere Aufgabe in der Rolle als Führungskraft, Grenzen zu setzen. Besagter Weisheitslehrer soll ja auch die Geld- und Viehhändler mit einer Geißel, also einer Peitsche, aus dem Tempel vertrieben haben. Sie müssen Grenzen setzen, spätestens da, wo Sie selbst oder andere zu Schaden kommen. Ihr Gegenüber merkt aber, aus welcher grundsätzlichen Haltung heraus Sie dies tun: Ist der Antrieb das eigene Ego, löst das beim anderen Trotz und Widerstand aus. Das gilt auch dann, wenn Ihre Vorschläge eigentlich sinnvoll oder sogar im Interesse des anderen sind. Agieren Sie aus einer Haltung der Liebe, stoßen Sie zwar nicht automatisch und sofort auf Akzeptanz, aber die Wahrscheinlichkeit dafür ist wesentlich höher.
Den anderen sehen heißt übrigens nicht, ihn mit Scharfsinn und Kenntnissen von Psychologie und Körpersprache wie ein interessantes Insekt zu analysieren. Gemeint ist hier vielmehr, was Saint-Exupéry seinen Fuchs sagen ließ: »Es ist ganz einfach: man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.« Der Verstand kann analysieren, aber die Verbindung zu einem Menschen führt über das Herz. Dafür müssen wir den anderen sehen wollen, statt ihn auf seine Rolle (Persona) zu reduzieren. Wie heißt es doch:
[highlight]Einen Menschen ansehen schafft Ansehen.[/highlight]
Nicht wenige Vorgesetzte nehmen nicht die Menschen als Individuen, sondern nur deren Funktionen wahr. Da ist jemand »der Pförtner«, »die Putzfrau«, oder »der Personaler«. Das erinnert an den Krankenhausarzt, der von der »Niere auf Zimmer 6« spricht.
Eine Grundvoraussetzung, um andere Menschen wirklich zu sehen, ist die Wahrnehmung des eigenen individuellen Ichs. Viele Vorgesetzte identifizieren sich sehr einseitig mit ihrem öffentlichen Ich. Sie machen ihr Selbstwertgefühl von ihrer Leistung, der Position im Unternehmen und dem allgemeinen sozialen Prestige abhängig. Wer aber im Spiegel nur noch seine Persona sieht, verdrängt den wesentlichen Teil. Ein solcher Mensch wirkt , passend zum Bild der Maske, »aufgesetzt« statt authentisch. Als authentisch bezeichnen wir jemanden, bei dem das individuelle Ich hinter der Maske deutlich durchscheint. Eine Führungskraft muss sich also zuerst einmal selbst (an‑)sehen, bevor sie es bei anderen kann.
Bitte hier weiterlesen: 2. Den anderen achten