2. Den anderen achten
Als Führungskräfte haben wir die Wahl, in welcher Haltung wir Mitarbeitern begegnen. Wenn wir sie tatsächlich ansehen und wahrnehmen, dann wird uns auffallen, wie unterschiedlich die Menschen in vielen Dingen sind – und wie ähnlich in anderen. Die Andersartigkeit zu achten bedeutet, den anderen sein zu lassen, wie er ist, ihn nicht verbiegen und den eigenen Wünschen anpassen zu wollen. Diese Achtung haben viele Vorgesetzte nicht. Sie erwarten, dass die Mitarbeiter sich exakt nach ihren Vorstellungen verhalten. Da diese das nicht tun, werden sie fortwährend kritisiert. Welche geistige Haltung zeigt ein Vorgesetzter, der hauptsächlich kritisiert und bei Erfolgen nach dem Motto »net gschimpft is globt gnug« verfährt? Wer als Führungskraft eine Grundhaltung der Liebe pflegt, achtet die Menschen und gibt ihnen regelmäßig Rückmeldungen, was er an ihnen und ihrer Arbeit schätzt. Er vermittelt Mitarbeitern den Eindruck, ihre Arbeit mache Sinn und sie lieferten einen wichtigen Beitrag zum Ganzen.
Eine häufige Ursache übertriebener Kritik ist übrigens die Ungeduld vieler Führungskräfte. Jemand, der Menschen führt, benötigt Geduld. Ungeduldige Menschen sind solche, die im Stau stehen und hupen. Sie bewirken damit nichts, sie strapazieren lediglich die Nerven aller Anwesenden. Wenn Sie ungeduldig sind, arbeiten Sie an sich. Die Dinge und die Menschen brauchen ihre Zeit und eine gute Führungskraft weiß das.
Den anderen achten bedeutet auch, ihn anzunehmen, wie er ist. Ein gutes Beispiel ist hier wieder der Weisheitslehrer. Einer seiner Apostel, Matthäus, der auch einer der vier Evangelisten ist, war vorher Zöllner. Diese hatten vom römischen Kaiser eine Lizenz zur Steuereintreibung erworben und erpressten von den Israeliten zum Teil mithilfe von Schlägern und roher Gewalt deren Geld. Damit füllten sie die römische Staatskasse und ihre eigenen Taschen. Ein Zöllner stand in seinem sozialen Status noch unter den Prostituierten. Seine Tätigkeit machte ihn zu einem Volksverräter. Deshalb wurde er von religiöser Betätigung ausgeschlossen. Das Betreten der Synagoge war ihm verboten. Jesus aber soll im Vorbeigehen gesagt haben: Folge mir nach! Und er stand auf und folgte ihm.2 Der Zöllner gibt ein Festmahl für Jesus, zu dem er all die Menschen einlädt, die er kennt und mit denen er Umgang haben kann: andere Zöllner und wahrscheinlich Kleinkriminelle, Ganoven und Prostituierte. Natürlich bekommt Jesus dafür Vorwürfe, wie er in einer solchen Gesellschaft verweilen könne, ohne sich zu entrüsten.
Und genau das ist der Punkt! Was bedeutet es denn, den anderen zu achten? Heißt es, den Menschen gegenüber Achtung zu zeigen, die man mag und respektiert und die moralisch unbelastet sind? Wenn die Liebe eine Haltung ist, und man in diese Haltung vertritt, dann gilt das für alle Menschen. Jedem Menschen gebürt Achtung. Das bedeutet nicht, mit allem einverstanden zu sein, was andere tun. Und es bedeutet schon gar nicht, sich von anderen alles gefallen zu lassen. Was heißt das für Sie als Führungskraft? Leistungsträgern gegenüber Achtung zu zeigen ist nicht sonderlich schwierig. Das dürften wohl die meisten Vorgesetzten hinbekommen. Aber wie sieht es mit den Mitarbeitern aus, die Ihr Nervenkostüm jeden Tag aufs Neue strapazieren, die Fehler machen, für die Sie dann den Kopf hinhalten müssen? Solche, die eine Lebenseinstellung und Arbeitsmoral haben, die Ihrer direkt entgegensteht? Wie viel Achtung bringen Sie für diesen Menschen auf? Anders formuliert: Wenn jemand diesen Mitarbeiter fragen würde: »Achtet dich deine Chefin/dein Chef?«, was würde dieser dann wohl sagen. Das Beste, was er sagen könnte, wäre: »Ja, meine Führungskraft achtet mich, aber sie ist mit meiner Leistung nicht zufrieden.« Wir können jedem Menschen gegenüber Achtung zeigen. Jesus hat den Zöllner nicht verurteilt, sondern er hat sich mit ihm an einen Tisch gesetzt, ihm Achtung erwiesen. Matthäus folgt ihm und wird einer seiner zwölf Apostel.
Manche Führungskräfte achten dagegen sehr darauf, mit wem sie in der Öffentlichkeit gesehen werden. Niemals würden Sie sich mit dem Problemfall der Abteilung, einem Betriebsratsmitglied oder einem Kollegen mit schlechtem Ruf zusammen in der Kantine zeigen. Es ist ihnen wichtig, mit den richtigen Leuten gesehen zu werden und einen guten Eindruck zu hinterlassen. Das zeigt natürlich einen deutlichen Mangel an Achtung, den die Menschen, nicht nur diejenigen, die man meidet, auch deutlich spüren. Das Ziel soll aber natürlich auch nicht sein, sich nur noch mit »Zöllnern« zu umgeben, damit jeder sieht, dass man keinen Dünkel hat. Es geht vielmehr darum, den Menschen gegenüber, denen wir tagtäglich begegnen, Achtung zu zeigen.
Eine Beispiel veranschaulicht, was es heißt, den Menschen zu sehen und zu achten:3
Ein weißer Manager eines internationalen Unternehmens, das den Aufbau einer Schule in Südafrika finanziert hatte, wurde eingeladen, das Projekt dem Präsidenten Nelson Mandela bei einem gemeinsamen Frühstück vorzustellen. Am vereinbarten Tag fährt ihn ein schwarzer Chauffeur des Unternehmens zu dem Termin. Mandela erweist seinem Gast die Ehre, ihn bereits vor dem Haus zu erwarten. Als sie sich zum Frühstück setzen, fragt Mandela: »Wo ist denn die andere Person? Sie waren doch zu zweit?« Der Unternehmensvertreter antwortet spontan: »Ach, das ist nur ein Fahrer.« Mandela steht auf und geht auf den Parkplatz, um den Chauffeur herzlich zum Frühstück dazuzubitten. Nach dem gemeinsamen Essen verabschiedet sich der Manager und steigt mit dem Chauffeur in den Wagen. Der Fahrer lenkt das Auto vom Grundstück und bleibt bei der nächsten Gelegenheit an der Seite stehen. Er steigt aus, läuft um das Auto, öffnet die Tür des Managers und kniet nieder. Mit gesenktem Kopf bedankt er sich tief bewegt dafür, dass der Manager »Madiba« darum gebeten habe, dass er an dem Frühstück teilnehmen dürfe. Der Manager antwortet, das sei doch das Mindeste gewesen, was er hätte tun können. Wenige Tage später ruft er den Fahrer erneut zu sich, um ihm voller Scham zu berichten, wie es sich wirklich zugetragen hatte. Ein wichtiger Entwicklungsschritt – für den Manager.
Eine Führungskraft mit der Geisteshaltung der Liebe sieht den Menschen und achtet ihn, unabhängig von seiner sozialen Rolle und sonstigen Unterscheidungsmerkmalen. Als christliche Tugend schließt die Liebe auch die Feindesliebe ein. Selbst wenn wir einem Menschen gegenüber unangenehme Emotionen haben, können wir hinter die Maske blicken und sehen, was sein Verhalten auslöst. Wenn wir Menschen wahrnehmen und ihre Würde achten, beginnen sie oft selbst damit, sich ebenfalls respektvoll zu verhalten. Ein solcher Anspruch erfordert eine hohe menschliche Reife, aber er ist nicht übermenschlich.
Bitte hier weiterlesen: 3. Verantwortung übernehmen