Dieser Hochmut ist der Grund, warum die »Kaste« der Manager mittlerweile in der Bevölkerung oft zynisch betrachtet wird und massiv an Ansehen verloren hat. Bei aktuellen Befragungen zum Image von Berufen landet der Manager zusammen mit Versicherungsvertretern und Politikern auf den letzten Plätzen. Der schlechte Ruf der Manager liegt sicherlich nicht an einem Zuviel an der zur Menschlichkeit gehörenden Demut, sondern an der Abwesenheit derselben.
Woran liegt es, dass viele Manager hochmütig bzw. überheblich sind? Es gibt drei Hauptgründe dafür, dass Manager sich auf die Ego-Säule stellen. Diese sind der Stolz auf den eigenen Verstand, der Stolz auf den eigenen Erfolg und der Stolz auf den eigenen äußeren Reichtum. Betrachten wir nun beispielhaft den Stolz auf den eigenen Verstand einmal genauer und sehen, was es damit auf sich hat.
Hochmut aus Stolz auf den Verstand
Ein häufiger Grund für Hochmut bei Managern ist deren Stolz auf den eigenen Verstand. Sicherlich sind die meisten Manager intelligent, aber oft gar nicht herausragend. Beim typischen Intelligenztest wird der Durchschnitt aller Teilnehmer auf einen IQ von 100 kommen. Der Test ist so skaliert, dass zwei Drittel der Bevölkerung sich zwischen 85 und 115 bewegen. Als hochbegabt gelten Menschen mit einem Wert ab 130. Aber nur 2,2 Prozent der Bevölkerung erreichen solche Werte. Dass einzelne Manager zu der Gruppe der Hochbegabten gehören, ist also statistisch gesehen unwahrscheinlich. Es ist aber auch nicht wichtig, denn es zählt nur eine gewisse Grundintelligenz, die im Beruf gegeben sein muss. Diese besitzt wohl jeder Leser dieses Buches. Darüber hinaus spielt Intelligenz für den Erfolg im Leben keine Rolle, wie Malcolm Gladwell in seinem sehr lesenswerten Buch Überflieger klar aufgezeigt hat. Freuen Sie sich also, wenn die Natur Sie gut ausgestattet und Ihr soziales Umfeld Ihr Potenzial auch noch gefördert hat. Seien Sie dankbar: Es hätte auch anders kommen können. Wenn sich aber jemand aufgrund seines scharfen Verstandes anderen überlegen fühlt, zeugt das von mangelnder menschlicher Reife.
Lassen Sie uns sehen, was ein Mann zum Thema sagt, der nicht nur selbst einen scharfen Verstand besaß, sondern der sein Leben dafür einsetzte, dass es armen und unterdrückten Menschen besser ging. Die folgende Rede stammt vom Friedensnobelpreisträger Martin Luther King und wurde 1955 gehalten:
»Wir wollen zuerst über die Notwendigkeit eines scharfen Verstandes nachdenken, der durch klares Denken, realistisches Abwägen und entschiedenes Urteil gekennzeichnet ist. Der scharfe Verstand ist durchdringend. Er durchbricht die Kruste der Legenden und Mythen und sondert das Wahre vom Falschen. Der so begabte Mensch ist klarsichtig und urteilsfähig, zielstrebig und pflichtbewusst.
Wer möchte bezweifeln, dass solche Schärfe des Verstandes eines der wichtigsten Bedürfnisse des Menschen ist? Nur selten finden wir Menschen, die zu schwieriger und gründlicher Gedankenarbeit bereit sind. Fast überall werden vereinfachte Antworten und unfertige Lösungen bevorzugt. […]
Aber wir dürfen es nicht damit genug sein lassen, einen scharfen Verstand zu entwickeln. Das Evangelium verlangt auch ein weiches Herz. Ein scharfer Verstand ohne ein weiches Herz ist kalt und lässt ein Leben in ständigem Winter erstarren, dem die Wärme des Frühlings und die Hitze des Sommers fehlt. Gibt es einen tragischeren Anblick als einen Menschen, der sich auf die Höhen eines disziplinierten, klaren Verstandes emporgeschwungen hat, zugleich aber in der leidenschaftslosen Tiefe der Hartherzigkeit versunken ist?
Der hartherzige Mensch lebt niemals wirklich. Er verfällt einem krassen Zweckdenken, der andere Menschen hauptsächlich danach bewertet, welchen Nutzen sie ihm bringen. Niemals erfährt er die Schönheit der Freundschaft, denn er ist zu kalt, um Zuneigung zu empfinden, und zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um Sorgen und Freuden eines anderen zu teilen. Er ist wie eine Insel. Kein Strom der Liebe verbindet ihn mit dem Festland der Menschheit.
Der Hartherzige sieht Menschen nicht als Menschen, sondern als Objekte, als unpersönliche Rädchen eines Getriebes. Im großen Räderwerk der Industrie sieht er den Menschen nur als Arbeitskraft, im unruhigen Leben der Großstadt nur als Zahl, und im stumpfsinnigen Militärbetrieb nur als Nummer in einem Regiment. Er entmenschlicht das Leben.«[i]
King verknüpft hier die Forderung nach einem scharfen Verstand mit der nach einem weichen Herzen. Ein Mensch mit einem scharfen Verstand, der hartherzig ist, »lebt niemals wirklich«. Wer würde aber schon von sich selbst sagen, er sei hartherzig? Viele Manager verfolgen jedoch genau das krasse Zweck- und Nutzendenken, von dem King spricht. Es gibt kaum ein Gespräch unter Managern, bei dem nicht in den ersten 60 Sekunden gefragt wird: »Und was machen Sie so?« Verspricht die Antwort einen Nutzen, vertieft man das Gespräch, sonst wechselt man geschickt und unverbindlich den Gesprächpartner. Auf einer Netzwerkveranstaltung mag das noch in Ordnung sein, denn man will hier vielleicht Kunden oder Kooperationspartner gewinnen und nicht den ganzen Abend mit einer Person verbringen. Wenn man aber auch in anderen beruflichen und privaten Situationen Menschen aufgrund von Stellung, Einkommen und Bildung nur nach Nutzwert klassifiziert und den Menschen dahinter ausblendet, ist das eine Form von Hochmut.
Reflexionsfragen
- Wie sieht es mit Ihrer Herzkapazität aus? Arbeiten Sie daran, neben dem scharfen Verstand ein »weiches Herz« zu entwickeln?
- Ist der Nutzen einer Person für Sie maßgeblich?
- Was denken Sie über Menschen, die Ihnen intellektuell deutlich unterlegen sind?
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Der Chef, den ich nie vergessen werde“. Dort finden Sie auch weitere Ausführungen über:
- Hochmut aus Stolz auf den Erfolg
- Hochmut aus Stolz auf Besitz
[i] King, Martin Luther jr.: Kraft zum Lieben – Betrachtungen und Reden des Friedensnobelpreisträgers, Konstanz 1983, S. 12 und 17.